5

 

Sie nahm auf einem der beiden Sessel Platz. Tolliver und ich saßen ihr direkt gegenüber, auf der Kante seiner Betthälfte. Sie hatte bereits einen dampfenden Becher Kaffee von McDonald's in der Hand, also bot ich ihr keine heiße Schokolade an. Unsere Flucht aus Twylas Haus erwähnte sie mit keinem Wort. Sie sah erschöpft, aber auch überdreht aus.

Sie sagte: »Wir werden in den nächsten Tagen ziemlich viel Aufmerksamkeit genießen. Die Fernsehsender rufen bereits auf dem Revier an. Sie werden Nachrichtenteams herschicken. Das State Bureau of Investigation hat den Fall übernommen, aber ich bin weiterhin an den Ermittlungen beteiligt. Die Jungs vom SBI wollen, dass ich mich um Sie kümmere, da ich Sie engagiert habe. Pell Klavin, der die Ermittlungen leitet, und Special Agent Max Stuart werden noch mit Ihnen reden wollen.«

»Und wissen Sie, was ich will?«, sagte sie, nachdem wir nichts darauf erwiderten. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen Ihren Scheck ausstellen und Sie könnten die Stadt verlassen. Schon bald wird Doraville im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. ... Nun, ich nehme an, Sie wissen, wie das ist. Wir werden nicht nur dastehen, als hätten wir seelenruhig zugesehen, wie irgendein Verrückter acht Jungen umbringt. Doch damit nicht genug: Wir werden auch einen extrem leichtgläubigen Eindruck machen.«

Selber schuld, dachte ich.

»Wir würden sofort fahren, wenn wir könnten«, sagte Tolliver, und ich nickte. »Wir haben keine Lust auf den Medienzirkus.« Ein gewisses Interesse von Seiten der Medien war gut fürs Geschäft, aber wenn es zu viel wurde, schadete uns das eher.

Sheriff Rockwell ließ sich so abrupt in den Sessel zurückfallen, dass wir sie verwundert ansahen. Sie blickte uns so merkwürdig an.

»Was ist?«, fragte Tolliver.

»Ich hätte nie gedacht, dass Sie sich diese Chance für Gratiswerbung entgehen lassen«, sagte sie. »Das macht Sie mir nur sympathischer. Wollen Sie wirklich abreisen? Vielleicht kann ich die Jungs vom SBI ja überreden, in den Nachbarort zu fahren, wenn sie mit Ihnen reden wollen. Falls Sie das Motel heute noch verlassen möchten.«

»Wir werden heute Abend noch aus Doraville abreisen«, sagte ich. Ich fühlte mich, als sei eine große Last von mir abgefallen. Ich war mir sicher gewesen, dass uns Sheriff Rockwell zum Bleiben nötigen würde. Ich hasse Polizeijobs, am liebsten habe ich Friedhofsaufträge. Man reist in eine bestimmte Stadt, fährt raus auf den Friedhof, trifft die Hinterbliebenen, geht aufs Grab und erzählt, was man erfahren hat. Dann steckt man den Scheck ein und verlässt die Stadt. Sheriff Rockwell erlaubte immerhin, dass wir uns ein Stück weit vom Ort des Geschehens entfernten.

»Lass uns bis morgen warten«, sagte Tolliver. »Du bist immer noch recht wackelig auf den Beinen.«

»Ich kann mich im Auto ausruhen«, sagte ich und fühlte mich dabei wie ein Kaninchen, das nur noch einen kurzen Vorsprung vor der Schlange hat.

»Na gut«, meinte Tolliver mit zweifelndem Blick. Aber er spürte auch meinen verzweifelten Wunsch, Doraville so schnell wie möglich hinter mir zu lassen.

»In Ordnung«, sagte Sheriff Rockwell. Sie schien immer noch über unsere Bereitwilligkeit abzureisen zu staunen. »Aber sicher will Twyla Ihnen noch den Scheck geben und mit Ihnen reden.«

»Wir werden mit ihr reden, bevor wir die Gegend endgültig verlassen. Wie gut kommen Sie am Tatort voran?«, fragte Tolliver, als sich Sheriff Rockwell erschöpft aus dem Sessel erhob und zur Tür ging.

Sie war in Gedanken bereits woanders gewesen und drehte sich nur widerwillig um. »Wir haben an allen Stellen tief genug gegraben, um bestätigen zu können, dass dort sterbliche Überreste liegen«, sagte sie. »Morgen früh, wenn wir besseres Licht haben, kommen die Gerichtsmediziner, um die Grabungen zu überwachen. Meine Hilfssheriffs werden vermutlich im Vorfeld den anstrengendsten Part erledigen. Klavin und Stuart werden mich auf dem Laufenden halten.« Sie schien diesbezüglich aber so ihre Zweifel zu haben.

»Das ist doch gut, oder?«, sagte ich, fast schon geschwätzig vor lauter Erleichterung. »Dass die Gerichtsmediziner kommen. Sie wissen, wie man die Leichen ausgräbt, ohne vielleicht vorhandenes Beweismaterial zu vernichten.«

»Ja, aber es fällt uns nun mal nicht leicht zuzugeben, dass wir Hilfe brauchen. Aber wir brauchen Hilfe.« Sandra Rockwell betrachtete kurz ihre Hände, wie um sich zu vergewissern, dass sie zu ihr gehörten. »CNN und noch zwei andere Sender haben sich bereits bei mir persönlich gemeldet. Deshalb sollten Sie morgen möglichst früh abreisen oder am besten noch gleich. Und rufen Sie mich an, wenn Sie in einem anderen Motel eingecheckt haben. Verlassen Sie auf keinen Fall den Bundesstaat oder so. Vergessen Sie nicht, dass Sie noch mit den Leuten vom SBI reden müssen.«

»Versprochen«, sagte Tolliver.

Sie ging ohne weitere Ermahnungen, und ich griff nach meinem Koffer. Ich würde keine zehn Minuten brauchen, um draußen zu sein.

Tolliver erhob sich ebenfalls und begann, Rasierer und Rasiercreme in seinem Waschbeutel zu verstauen. »Warum kannst du es kaum erwarten, von hier wegzukommen?«, fragte er. »Ich finde, du solltest schlafen.«

»Was ich gesehen habe, war einfach zu schrecklich«, sagte ich. Ich hielt beim Packen inne, einen zusammengefalteten Pulli in der Hand. »Ich möchte auf keinen Fall in diese Ermittlungen verwickelt werden. Ich hol schon mal den Straßenatlas. Wir sollten eine Entscheidung treffen, in welche Richtung wir fahren wollen.«

Obwohl ich noch ein wenig wackelig auf den Beinen war, griff ich nach unserem Schlüsselbund auf dem Fernseher. Während Tolliver die Vorräte in unserer Minibar überprüfte, ging ich hinaus ins Dunkel, um das Auto aufzuschließen. Ich machte die Tür hinter mir zu. Draußen war es klirrend kalt, und es herrschte Totenstille. Es brannten viele Lichter in Doraville, auch eines über meinem Kopf, aber viel änderte das nicht. Ich machte meine dicke Jacke zu und sah zum Himmel auf. Obwohl er bewölkt war, sah ich in der Ferne Sterne funkeln. Ich betrachte sie gern, vor allem, wenn mich mein Job fertigmachte. Sie sind groß, kalt und sehr weit weg, und im Vergleich dazu sind meine Probleme winzig klein.

Bald würde es schneien, ich konnte es förmlich riechen.

Ich riss mich von dem faszinierenden Nachthimmel los und dachte an näher liegende Dinge. Ich drückte auf den Funk-Autoschlüssel und trat von dem schmalen Bürgersteig vor unserer Tür. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich etwas bewegte, und ich drehte den Kopf.

Ein heftiger Schlag erwischte mich am Arm, kurz unter dem Ellbogen. Heftiger Schmerz durchzuckte mich. Ich schrie, sprachlos vor Entsetzen, und drückte auf den Alarmknopf des Funkschlüssels. Die Hupe ging los, aber im selben Moment fiel mir der Schlüssel aus den tauben Fingern. Ich versuchte mich umzudrehen, um meinem Angreifer in die Augen zu sehen. Ich wollte die Hände hochnehmen, um mich zu schützen. Der linke Arm gehorchte mir nicht. Ich konnte nur einen schwarz gekleideten Mann ausmachen, der eine gestrickte Kapuze trug. Ein zweiter Schlag sauste bereits auf meine Schläfe herab. Obwohl ich mich zur Seite warf, um ihn nicht voll abzubekommen, dachte ich, mir würde gleich der Kopf wegfliegen, als die Schaufel meinen Schädel traf. Der Bürgersteig raste auf mich zu. Das Letzte, an das ich mich noch erinnern kann, ist, dass ich die Arme ausstreckte, um meinen Sturz abzufangen, aber nur einer davon gehorchte mir.

 

»Sie wird wieder werden, ja?«, hörte ich Tolliver sagen, aber seine Stimme klang lauter und schärfer als sonst. »Harper, Harper, rede mit mir!«

»Sie kommt gleich wieder zu sich«, sagte eine beruhigende Stimme, die Stimme eines älteren Mannes.

»Es ist kalt hier draußen«, schrie Tolliver. »Schieben Sie sie in den Krankenwagen.«

O Mist, das können wir uns nicht leisten. Zumindest sollten wir unser Geld nicht dafür verschwenden. »Nein«, wollte ich sagen, brachte jedoch kaum ein Wort hervor.

»Doch«, sagte er. Er hatte mich verstanden. Gott, bin ich froh, dass ich Tolliver habe. Was, wenn ich ganz allein auf der Welt wäre? Was, wenn er eines Tages beschloss ...

O Gott, mein Kopf tat weh. War das Blut auf meiner Hand?

»Wer hat mir einen Schlag versetzt?«, fragte ich, und Tolliver sagte: »Jemand hat dir einen Schlag versetzt? Ich dachte, du seist in Ohnmacht gefallen! Jemand hat sie geschlagen! Rufen Sie die Polizei.«

»In Ordnung, Kumpel, wir bestellen sie ins Krankenhaus«, sagte die beruhigende Stimme erneut.

Mein Arm tat so weh wie noch nie. Aber im Grunde tat mir alles weh. Ich wünschte, jemand würde mich k. o. schlagen, damit ich wieder das Bewusstsein verlor, so schlimm waren die Schmerzen.

»Alles klar?«, fragte eine mir unbekannte Stimme.

»Eins, zwei, drei«, sagte die beruhigende, und schon lag ich auf einer Rollbahre und unterdrückte einen Schrei, so sehr schmerzte die Bewegung.

»Das dürfte eigentlich nicht so sehr wehgetan haben«, sagte die unbekannte Stimme. Sie gehörte einer Frau. »Hat sie noch andere Verletzungen außer am Kopf?«

»Arm«, brachte ich hervor.

»Vielleicht sollten Sie sie nicht bewegen«, sagte mein Bruder.

»Wir haben sie schon bewegt«, meinte die beruhigende Stimme.

»Alles in Ordnung mit ihr?«, mischte sich eine weitere Stimme ein. Eine selten dämliche Frage, wie ich fand.

Darin schoben sie mich zum Krankenwagen. Ich öffnete erneut die Augen, nur einen Spalt weit, um das Blaulicht zu sehen. Als ich daran dachte, was dies kosten würde, ärgerte ich mich erneut. Aber als sie mich in den Krankenwagen schoben, dachte ich erst einmal gar nichts mehr.

Erst im Krankenhaus kam ich wieder richtig zu mir. Ich sah, wie sich ein Mann über mich beugte, ein Mann mit kurz geschnittenem grauen Haar und einer funkelnden Brille mit Drahtgestell. Sein Gesichtsausdruck war ernst, aber wohlwollend, genau, wie es sich für einen Arzt gehört. Hoffentlich war es auch ein Arzt.

»Verstehen Sie mich?«, sagte er. »Können Sie mir sagen, wie viele Finger das hier sind?«

Das waren zwei Fragen. Ich versuchte zu nicken, um ihm zu sagen, dass ich ihn verstand. Leider war das ein großer Fehler. Was für Finger?

Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich mich in einem abgedunkelten, warmen Raum befand. Ich hatte das Gefühl, in Windeln gewickelt zu sein. Kein Platz mehr in der Herberge? Ich öffnete die Augen. Ich schien in einem Bett zu liegen und war ordentlich in weiße Baumwolldecken gehüllt. Über meinem Bett befand sich eine Lampe, aber sie war heruntergedimmt. Den gedämpften Geräuschen um mich herum entnahm ich, dass es ganz früh am Morgen sein musste, drei Uhr vielleicht. Neben dem Bett stand ein orangefarbener Lehnstuhl, die Lehne war so weit es ging nach hinten verstellt. Darin schlief Tolliver, er war in eine andere Krankenhausdecke gewickelt. An seinem T-Shirt klebte Blut. Mein Blut?

Ich hatte großen Durst.

Eine Krankenschwester watschelte herein, nahm meinen Puls, maß meine Temperatur. Als sie sah, dass ich wach war, lächelte sie, sagte aber kein Wort, bis sie ihre Pflichten erledigt hatte.

»Kann ich Ihnen irgendetwas bringen?«, fragte sie leise.

»Wasser«, sagte ich sehnsüchtig.

Sie hielt einen Strohhalm an meine Lippen, und ich saugte ein, zweimal daran. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie trocken mein Mund gewesen war, bis er sich mit dem kühlen Nass füllte. Ich hing an einem Tropf. Ich hatte das dringende Bedürfnis, aufs Klo zu gehen.

»Ich muss auf die Toilette«, flüsterte ich.

»Gut. Sie können aufstehen, wenn ich Ihnen dabei helfe. Ganz langsam.«

Sie klappte das Seitengitter am Krankenhausbett herunter, und ich begann mich langsam aufzurichten. Das war gar keine gute Idee, und ich hielt inne, als sich alles drehte. Sie legte einen Arm um mich. Ganz langsam richtete ich mich endgültig auf. Während mich ihr einer Arm weiterhin stützte, kurbelte sie mit der freien Hand das Bett herunter. Ich ließ mich langsam heruntergleiten, bis meine nackten Füße das Linoleum berührten. Gemeinsam schlurften wir zur Toilette, wobei wir den Infusionsständer hinter uns her zogen. Sich auf die Klobrille zu setzen war kompliziert, aber die anschließende Erleichterung war es wert.

Die Schwester war vor der halb offenen Tür stehen geblieben, und ich hörte, wie sie mit Tolliver sprach. Es tat mir leid, dass er geweckt worden war, aber auf dem Rückweg zu meinem Bett war ich doch froh, sein Gesicht zu sehen.

Ich dankte der Schwester, die so rotbraun war wie ein alter Kupferpenny. »Drücken Sie auf den Knopf, wenn Sie mich brauchen«, sagte sie.

Nachdem sie weg war, erhob sich Tolliver und kam an mein Bett. Er umarmte mich so vorsichtig, als sei ich aus Glas. Er küsste mich auf die Wange.

»Ich dachte, du bist gestürzt«, sagte er. »Ich wusste ja nicht, dass dich jemand niedergeschlagen hat. Ich habe nichts gehört. Ich dachte, du hast eine Art Flashback gehabt, hättest dich an den Tatort zurückversetzt gefühlt. Dass dein Bein nachgegeben hat oder irgendwelche anderen Spätfolgen des Blitzschlags dafür verantwortlich sind.«

Vom Blitz getroffen zu werden, hat lange Nachwirkungen. Letztes Jahr hatte ich an einer plötzlichen Tinnitusattacke gelitten, die schließlich nachließ. Die einzige Erklärung, die mir dazu einfiel, war der Blitzschlag, den ich mit fünfzehn erlitten hatte. Insofern war es nicht weiter verwunderlich, dass Tolliver meinen früheren Unfall dafür verantwortlich gemacht hatte, als er mich am Boden liegend vorfand.

»Hast du ihn gesehen?«, fragte er. Er klang schuldbewusst, was absurd war.

»Ja«, sagte ich, unglücklich über mein schwaches Stimmchen. »Aber nicht sehr deutlich. Er trug dunkle Kleidung und eine von diesen Kapuzen. Er kam ganz plötzlich aus der Dunkelheit. Zuerst hat er mich an der Schulter erwischt, und bevor ich ihm ausweichen konnte, am Kopf.« Ich konnte von Glück sagen, dass ich mich zur Seite geduckt hatte. Der Schlag hatte mich nicht voll getroffen.

»Deine Ulna ist angebrochen«, sagte Tolliver. »Du weißt schon, einer dieser Knochen im Unterarm. Und du hast eine Gehirnerschütterung. Keine schwere allerdings. Sie mussten dir die Kopfhaut nähen und dir ein paar Haare abrasieren. Aber das sieht man kaum, ehrlich«, sagte er, als er meinen Gesichtsausdruck registrierte.

Ich versuchte mich nicht über die paar Quadratzentimeter Haare aufzuregen, die schließlich wieder nachwachsen würden. »Ich habe mir schon seit zehn Jahren nichts mehr gebrochen«, sagte ich. »Und damals war es nur ein Zeh.« Ich hatte versucht, den Kindern etwas zum Abendessen zu kochen, und meine Mutter hatte sich auf mich gestürzt, als ich gerade eine riesige Glasschale aus dem Ofen holte, auf der zufälligerweise ein Brathuhn lag. Mein Zeh war nicht nur gebrochen gewesen, sondern hatte auch Verbrennungen davongetragen. Ich war wach genug, um zu begreifen, dass der damalige Schmerz nichts war im Vergleich zu dem, der mich jetzt quälen würde, hätte man mich nicht mit Schmerzmitteln vollgepumpt.

Ich freute mich nicht auf den Moment, wenn ihre Wirkung nachließ.

Tolliver hielt meine rechte Hand. Zum Glück war mein linker Arm gebrochen. Er starrte nachdenklich ins Leere. Zum Denken war ich eindeutig zu benebelt.

»Das muss der Mörder gewesen sein«, sagte er.

Ich bekam Gänsehaut. Obwohl mein Gehirn im Moment nur sehr eingeschränkt funktionierte, wurde mir allein schon beim Gedanken daran schlecht, dass diese Person - derjenige, der den verscharrten Jungs Unaussprechliches angetan hatte - so direkt in meiner Nähe gewesen war, mich berührt und mich mit jenen Augen angeschaut hatte, die sich an so viel Leid ergötzt hatten.

»Können wir morgen von hier weg?«, fragte ich. Ich schaffte es nicht, tief genug einzuatmen, um meiner Stimme genügend Nachdruck zu verleihen.

»Nein«, sagte er. »Du wirst ein paar Tage lang nicht reisefähig sein. Erst muss es dir wieder besser gehen.«

»Aber ich will hier nicht bleiben«, sagte ich. »Es war eine gute Idee, den Ort zu verlassen.«

»Ja, aber jetzt sitzen wir hier erst mal fest«, sagte er bemüht freundlich, obwohl ich seinen Ärger deutlich mitschwingen hörte. »Dafür hat ER gesorgt. Der Arzt meinte, du könntest froh sein, mit einer Gehirnerschütterung davongekommen zu sein. Er hatte schon das Schlimmste befürchtet.«

»Ich frage mich nur, warum er aufgehört und mich nicht umgebracht hat?«

»Weil du auf den Alarmknopf gedrückt hast und ich ziemlich schnell an der Tür war«, sagte Tolliver. Er stand auf und begann unruhig auf und ab zu gehen. Davon bekam ich noch mehr Kopfschmerzen. Er war sehr wütend und sehr besorgt. »Nein, ich habe keine Menschenseele auf dem Parkplatz gesehen, falls es dich interessiert. Aber ich habe auch nicht darauf geachtet. Ich dachte, du seist gestürzt. Kann sein, dass er nur wenige Meter entfernt war, als ich aus der Tür kam. Und ich war schnell.«

Ich bemühte mich um ein Lächeln, das mir auch gelungen wäre, hätte mein Kopf nicht so wehgetan. »Das kann ich mir vorstellen«, flüsterte ich.

»Du musst jetzt schlafen«, sagte er, und auch ich fand es eine gute Idee, mal kurz die Augen zuzumachen.

Das Nächste, was ich weiß, ist, dass die Sonne durch die Vorhänge schien und um mich herum jede Menge Trubel herrschte. Das Krankenhaus war aufgewacht. Ich hörte Stimmen und Schritte auf dem Flur, Wagen wurden vorbeigeschoben, Schwestern kamen herein und stellten irgendetwas mit mir an. Man brachte mir mein Frühstückstablett mit einer großen Kanne Kaffee und grüner Götterspeise. Als ich mir einen Löffel davon in den Mund schob, merkte ich erst, wie hungrig ich war. Ich war selbst darüber erstaunt. Als ich feststellte, dass ich das grüne Wabbelzeug sogar mit Genuss hinuntergeschluckt hatte, wurde mir klar, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, wann ich zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Götterspeise war besser als gar nichts.

»Du solltest auch etwas frühstücken, ins Motel gehen und duschen«, sagte ich. Tolliver sah mir ebenso fasziniert wie entsetzt beim Essen zu.

»Ich bleibe, bis ich mit dem Arzt gesprochen habe«, sagte er. »Die Schwester meinte, er schaut gleich vorbei.«

Der grauhaarige Mann, an den ich mich noch von der vorherigen Nacht erinnerte, stellte sich als Dr. Thomason vor. Er war immer noch auf den Beinen. »Letzte Nacht war so einiges los in Doraville«, sagte er. »Ich habe drei Nächte die Woche Notdienst. So hart habe ich noch nie gearbeitet.«

»Danke, dass Sie sich um mich gekümmert haben«, sagte ich höflich, obwohl das eigentlich sein Job war.

»Gern geschehen. Falls Sie sich nicht mehr daran erinnern: Ich sagte ihrem Bruder letzte Nacht, dass sie einen Haarriss in der Ulna haben. Sie ist nur angebrochen, der Stützverband wird sie schützen. Wenn möglich, sollten Sie ihn rund um die Uhr tragen. Der Verband muss ein paar Wochen dran bleiben. Wenn Sie aus dem Krankenhaus entlassen werden, bekommen Sie Kontrolltermine wegen Ihres Arms. Er wird noch ein paar Tage wehtun. Weil sie außerdem eine Gehirnerschütterung haben, brauchen Sie Schmerzmittel. Anschließend müssten Sie mit Paracetamol zurechtkommen.«

»Darf ich das Bett verlassen und ein wenig herumlaufen?«

»Wenn Ihnen danach ist, und wenn jemand dabei ist, dürfen Sie den Flur ein, zwei Mal auf und ab gehen. Aber wenn Ihnen dabei schwindlig oder übel wird, müssen Sie natürlich sofort zurück ins Bett.«

»Sie will jetzt schon entlassen werden«, erklärte Tolliver bemüht neutral, was ihm allerdings deutlich misslang.

Der Arzt sagte: »Das halte ich für keine gute Idee.« Er sah von einem zum anderen. Kann sein, dass ich ein wenig genervt aussah. »Sie müssen Ihrem Bruder auch etwas Ruhe gönnen«, meinte der Arzt. »Er wird sich ein paar Tage um Sie kümmern müssen, junge Dame. Gönnen Sie ihm eine Verschnaufpause. Sie sollten wirklich bleiben. Wir müssen Ihren Kopf beobachten. Eine klitzekleine Krankenversicherung werden Sie doch wohl haben?«

Nach diesen Worten konnte ich natürlich schlecht auf eine Entlassung bestehen. Nur ein ausgesprochen herzloser Mensch gönnt seinem Bruder keine Verschnaufpause. Darauf verließ sich Dr. Thomason, und Tolliver auch.

Ich dachte daran, mich so unangenehm aufzuführen, dass das Krankenhaus froh wäre, mich loszusein. Aber damit würde ich Tolliver nur in Verlegenheit bringen. Ich sah ihn mir gründlich an, bemerkte die Ringe unter seinen Augen, die hängenden Schultern. Er sah älter aus als achtundzwanzig. »Tolliver«, sagte ich schuldbewusst. Er kam zu mir und ergriff meine gesunde Hand. Ich schmiegte meine Wange an seine Finger, und die Sonne schien zum Fenster herein und wärmte mein Gesicht. Ich liebte ihn über alles, aber das durfte er nie erfahren.

Plötzlich sagte Dr. Thomason: »Dann sehe ich Sie also wenigstens morgen früh noch mal. Essen dürfen Sie ganz normal, ich werde den Schwestern Bescheid geben. Lassen Sie es heute langsam angehen, und gute Besserung.« Bevor ich noch etwas sagen konnte, war er auch schon verschwunden. Schuldbewusst ließ ich Tollivers Hand los. Ich hatte sie schon viel zu lange festgehalten.

Er beugte sich vor und küsste meine Wange. »Ich werde jetzt duschen gehen, frühstücken und ein Schläfchen machen«, sagte er. »Bitte versuch nicht, das Bett allein zu verlassen, wenn ich nicht da bin. Versprich mir, dass du nach einer Schwester klingelst.«

»Versprochen«, sagte ich und überlegte, warum jedermann zu glauben schien, dass ich sämtliche Regeln missachtete, sobald man mir den Rücken zukehrte. Das einzig Merkwürdige an mir ist, dass ich vom Blitz getroffen wurde. Ich halte mich nicht für eine Rebellin, für jemanden, der bewusst Ärger vom Zaun bricht oder sonst irgendetwas anstellt.

Nachdem er weg war, war ich ratlos. Ich hatte kein Buch dabei, Tolliver hatte versprochen, mir bei seiner Rückkehr eines mitzubringen. Andererseits hatte ich so meine Zweifel, ob ich mit meinem Kopf überhaupt etwas lesen konnte. Vielleicht sollte ich ihn lieber bitten, mir ein Hörbuch und meinen kleinen CD-Player mitsamt den Kopfhörern mitzubringen.

Nachdem ich mich zehn Minuten gelangweilt hatte, fing ich an, mir die Apparate neben meinem Bett ganz genau anzusehen. Ich schaffte es, den Fernseher anzumachen. Der Kanal, der eingestellt war, war der Krankenhauskanal, und ich sah, wie Leute in die Lobby und aus ihr heraus geschoben wurden. Obwohl ich mich nicht so schnell langweile, ödete mich auch dies nach zehn Minuten an. Ich schaltete auf einen Nachrichtenkanal um, was ich gleich darauf bereuen sollte.

Das verlassene, verfallene Haus inmitten der malerischen Landschaft sah ganz anders aus als am Vortag. Ich musste daran denken, wie mutterseelenallein ich mich auf dem Grundstück gefühlt hatte, wie einsam es gelegen war. Einsam genug, um jemandem Gelegenheit zu geben, acht junge Männer dort zu verscharren, ohne dass irgendetwas bemerkt worden wäre. Jetzt konnte man dort nicht aufkreuzen, ohne von vier Leuten mit Mikrofonen bedrängt zu werden.

Der Filmbeitrag, den ich jetzt sah, war sicherlich noch nicht alt, vielleicht wurde sogar live gesendet, denn der Stand der Sonne entsprach dem vor meinem Fenster. Es tat übrigens gut, mal wieder die Sonne zu sehen. Hätte ich doch nur draußen an der frischen Luft sein können! Aber angesichts der dicken Kleidung, die die Leute im Fernsehen trugen, war es offenkundig immer noch verdammt kalt.

Ich achtete nicht auf den Kommentar und starrte stattdessen auf die Gestalten hinter dem Reporter. Einige trugen Polizeiuniformen, andere Overalls. Das musste die Spurensicherung vom SBI sein. Die beiden Männer in Anzügen waren bestimmt Klavin und Stuart. Ich war stolz darauf, dass ich mich noch an ihre Namen erinnerte.

Wie lange es wohl dauern würde, bis mich jemand besuchen kam? Vielleicht wurde ich ja morgen entlassen, und wir konnten unseren ursprünglichen Plan in die Tat umsetzen, die Stadt verlassen und eine gewisse Entfernung zwischen uns und diese Verbrechen bringen.

Noch während ich dies dachte, klopfte es auch schon an der Tür.

Zwei Männer in Anzug und Krawatte kamen herein, genau das, was ich jetzt gar nicht brauchen konnte.

»Ich bin Pell Klavin, und das ist Max Stuart«, sagte der Kleinere der beiden. Er war um die fünfundvierzig, sportlich und gut gekleidet. Sein Haar wurde allmählich grau, und seine Schuhe glänzten. Er trug eine randlose Brille. »Wir sind vom State Bureau of Investigation.« Stuart war ein wenig jünger und sein Haar war viel heller. Falls auch er bereits grau wurde, sah man es nicht. Er war genauso gut in Form wie Klavin.

Ich nickte, bereute es jedoch sofort. Vorsichtig fasste ich mir an den bandagierten Kopf. Obwohl er sich anfühlte, als würde er jeden Moment herunterfallen (was mein Befinden deutlich verbessert hätte), fühlte sich der Verband noch trocken und in Ordnung an. Mein linker Arm tat weh.

»Ms Connelly, wie wir hörten, wurden Sie gestern Abend überfallen«, sagte Stuart.

»Ja«, erwiderte ich. Ich war wütend auf mich, dass ich Tolliver weggeschickt hatte, und aus irrationalen Gründen auch wütend auf ihn, dass er auf mich gehört hatte und wirklich gegangen war.

»Das tut uns sehr leid«, sagte Klavin auf eine dermaßen joviale Weise, dass mir fast schlecht wurde. »Können Sie uns sagen, warum man Sie überfallen hat?«

»Nein, doch wahrscheinlich hat es etwas mit den Gräbern zu tun.«

»Gut, dass Sie das ansprechen«, sagte Stuart. »Können Sie uns beschreiben, wie Sie die Gräber gefunden haben? Welche Vorkenntnisse Sie hatten?«

»Ich hatte keinerlei Vorkenntnisse«, sagte ich. Anscheinend interessierten Sie sich nur sehr peripher für den Überfall auf mich, und ehrlich gesagt konnte ich das sogar verstehen. Ich lebte noch, was man von den acht anderen nicht gerade sagen konnte.

»Und woher wussten Sie dann, dass sie dort waren?«, fragte Klavin. Seine Augenbrauen waren zwei Fragezeichen. »Kannten Sie eines der Opfer?«

»Nein«, sagte ich. »Ich bin noch nie hier gewesen.«

Ich lehnte mich erschöpft zurück. Die Unterhaltung, die jetzt kam, konnte ich mir genau ausmalen. Sie war unnötig wie ein Kropf. Sie würden mir nicht glauben, sie würden versuchen, irgendeinen Grund zu finden, warum ich in Bezug auf die Auffindung der Leichen log. Sie würden jede Menge Zeit und Steuergelder verschwenden, um irgendeine Beziehung zwischen mir und den Opfern herzustellen oder zwischen mir und dem Mörder. Eine Beziehung, die es nicht gab, da konnten sie suchen, solange sie wollten.

Ich umklammerte meine Bettdecke, als könnte ich aus ihr ein wenig Geduld ziehen.

»Ich kenne keinen der verscharrten Jungen«, sagte ich. »Und ich weiß auch nicht, wer sie umgebracht hat. Ich nehme an, es gibt eine Akte über mich, dort finden Sie alle Hintergrundinformationen. Können wir diese Unterhaltung nicht einfach für beendet erklären?«

»Ich fürchte nicht«, sagte Klavin.

Ich stöhnte. »Ach kommt schon, Leute, gönnt mir doch ein wenig Ruhe. Ich fühle mich furchtbar, ich brauche Schlaf und habe nichts mit Ihren Ermittlungen zu tun. Ich habe sie einfach nur gefunden. Jetzt seid ihr dran.«

»Sie wollen uns also weismachen«, sagte Stuart mehr als skeptisch, »dass Sie einfach so Leichen finden.«

»Natürlich nicht einfach so«, sagte ich. »Das wäre doch Schwachsinn.« Gleich darauf hasste ich mich dafür, dass ich überhaupt geantwortet hatte. Die wollten mich doch nur zum Reden bringen, in der Hoffnung, dass ich ihnen verriet, wie ich die Leichen gefunden hatte. Sie würden niemals akzeptieren, dass ich die Wahrheit sagte.

»Schwachsinn?«, sagte Stuart. »Sie finden, das klingt schwachsinnig ?«

»Und Sie, meine Herren, sind wer genau?«, fragte ein junger Mann in der Tür.

Ich traute meinen Augen kaum. »Manfred?«, sagte ich völlig konsterniert. Das Sonnenlicht wurde von Manfred Bernardos Augenbrauenpiercing (rechts), dem Nasenpiercing (links) und dem an seinen Ohren (beidseitig) reflektiert. Manfred hatte sich sein Ziegenbärtchen abrasiert, stellte ich zerstreut fest, aber er hatte immer noch seine kurze, platinblonde Igelfrisur.

»Ja, mein Schatz, ich bin hergekommen, sobald ich konnte«, sagte er. Hätte sich mein Kopf nicht so zerbrechlich angefühlt, hätte ich ihn mit heruntergeklappter Kinnlade angestarrt.

Er trat mit der Eleganz eines Kunstturners an mein Bett und nahm meine gesunde Hand, die ohne Infusionsschlauch. Er hob sie an seine Lippen und küsste sie. Ich spürte, wie sein Zungenpiercing meine Finger streifte. Dann nahm er meine Hand in beide Hände. »Wie geht es dir?«, fragte er, als wäre niemand sonst im Zimmer. Er sah mir direkt in die Augen, und ich verstand die Botschaft.

»Nicht besonders«, sagte ich schwach. Leider war ich fast so schwach, wie ich klang. »Ich nehme an, Tolliver hat dir von der Gehirnerschütterung erzählt? Und von dem gebrochenen Arm?«

»Und diese Herren hier befragen dich, obwohl du so krank bist?«

»Sie glauben mir kein einziges Wort!«, sagte ich herzzerreißend. Manfred drehte sich mit hochgezogener gepiercter Braue zu ihnen um.

Stuart und Klavin sahen meinen neuen Besucher ebenso erstaunt wie angewidert an. Klavin schob seine Brille zurück auf die Nasenwurzel, als sähe Manfred dadurch besser aus. Und Stuart verzog das Gesicht, als habe er soeben in eine Zitrone gebissen.

»Und Sie sind...?«, sagte Stuart.

»Ich bin Manfred Bernardo, Harpers liebster Freund«, sagte er, während ich versuchte, mein Gesicht nicht zu verziehen. Ich schaffte es, Manfred meine Hand nicht sofort zu entreißen, und drückte seine untere Hand so fest ich konnte.

»Wo kommen Sie her, Mr Bernardo?«, fragte Klavin.

»Aus Tennessee«, sagte er. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.« Manfred beugte sich vor und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Als er sich wieder aufrichtete, sagte er : »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Harper nicht in der Lage ist, von Ihnen befragt zu werden, meine Herren.« Er sah ernst von einem zum anderen.

»Auf mich macht sie durchaus einen vernehmungsfähigen Eindruck«, sagte Stuart, aber er und Klavin warfen sich einen verunsicherten Blick zu.

»Das sehe ich anders«, meinte Manfred. Er war mehr als zwanzig Jahre jünger als Klavin und kleiner als Stuart - aber unter Manfreds über und über tätowierter und gepiercter Haut verbargen sich eine natürliche Autorität und ein starkes Rückgrat.

Ich schloss die Augen. Ich war wirklich erschöpft, aber drauf und dran, laut loszulachen.

»Wir lassen Sie einen Moment allein, damit Sie sich in Ruhe unterhalten können«, sagte Klavin in einem Ton, der alles andere als glücklich klang. »Aber wir werden wiederkommen, um noch einmal mit Ms Connelly zu reden.«

»Bis dann«, sagte Manfred höflich.

Schlurfende Schritte ... die Tür ging auf und ließ die Geräusche aus dem Krankenhausflur herein ... die dann wieder gedämpft wurden, als die SBIler die Tür hinter sich zu zogen.

Ich öffnete die Augen. Manfred betrachtete mich aus einer Entfernung von etwa 15 Zentimetern. Er machte Anstalten, mich zu küssen. Seine strahlend blauen Augen waren sexy.

»Na, na, Freundchen, nicht so stürmisch«, sagte ich. Er zog sich in eine sichere Entfernung zurück. »Was machst du denn hier? Und wie geht es deiner Großmutter?«

Xylda Bernardo war eine betrügerische alte Hellseherin, die allerdings einen Hauch von echtem Talent besaß. Das letzte Mal hatte ich sie in Memphis gesehen. Sie war damals schon ziemlich schwach gewesen, sowohl geistig als auch körperlich, und Manfred hatte sie nach Memphis fahren und sich um sie kümmern müssen, als sie mit uns hatte reden wollen.

»Sie ist im Motel«, sagte Manfred. »Sie wollte unbedingt mitkommen. Wir sind letzte Nacht hergefahren. Ich glaube, wir haben das einzige freie Motelzimmer in ganz Doraville bekommen, wahrscheinlich sogar im Umkreis von zwanzig bis dreißig Kilometern. Ein Reporter hat ausgecheckt, weil er was Besseres in einem Bed & Breakfast gefunden hat. Und Großmutter hat mich angewiesen, schnell zu diesem Motel zu fahren und zur Rezeption zu eilen. Manchmal ist sie durchaus hilfreich.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Sie hat nicht mehr lange zu leben.«

»Das tut mir leid«, sagte ich. Ich wollte fragen, was ihr fehlte, aber das war eine dumme Frage. Was änderte das schon? Ich kenne mich aus mit dem Tod, und er stand Xylda deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Sie weigert sich, ins Krankenhaus zu gehen«, sagte Manfred. »Sie will dafür kein Geld ausgeben, außerdem hasst sie die Atmosphäre dort.«

Ich nickte. Das konnte ich gut verstehen. Ich war auch nicht gerade froh darüber, im Krankenhaus zu liegen, obwohl ich gute Aussichten hatte, hier heil wieder rauszukommen.

»Sie macht gerade ein Schläfchen«, sagte Manfred. »Also dachte ich, ich seh mal nach dir, und stieß dann auf diese beiden Schlaumeier, die dir Fragen stellten. Ich dachte, sie hören vielleicht auf mich, wenn ich sage, dass ich dein Freund bin. Dass mir das vielleicht etwas mehr Autorität verleihen würde.«

Ich beschloss, dieses Thema auf sich beruhen zu lassen. »Aber was hat euch hierher geführt?«

»Großmutter meinte, ihr würdet uns brauchen.« Manfred zuckte die Achseln, aber er glaubte ihr trotzdem.

»Ginge es ihr zu Hause nicht besser?« Ich bekam ein schlechtes Gewissen bei der Vorstellung, dass sich die alte, kranke Xylda Bernardo mitsamt ihrem Enkel in dieses Bergnest geschleppt hatte, nur weil sie der Ansicht war, ich brauchte sie.

»Ja, aber dann würde sie nur ans Sterben denken. Sie wollte fahren, also sind wir gefahren.«

»Und ihr wusstet, wo wir sind?«

»Ich wünschte, ich könnte sagen, dass Oma eine Vision hatte. Aber es gibt eine Website, der man euren Aufenthaltsort entnehmen kann.«

»Wie bitte?« Ich muss genauso verblüfft ausgesehen haben, wie ich mich fühlte.

»Es gibt eine Website über dich und deine Arbeit. Die Leute schicken eine Mail dorthin, wenn sie dich gesehen haben.«

Daraus wurde ich auch nicht klüger. »Warum?«

»Du hast eben eine Fangemeinde«, sagte Manfred. »Die Leute wollen wissen, wo du gerade bist, was du gefunden hast.«

»Das ist ja verrückt.« Ich war fassungslos.

Er zuckte die Achseln. »Was wir machen, ist auch verrückt.«

»Das steht also im Internet? Dass ich in Doraville, North Carolina, bin?« Ob Tolliver wohl ebenfalls über meine Fans Bescheid wusste? Warum hatte er mir nichts davon erzählt?

Manfred nickte. »Es gibt ein paar Bilder von dir hier in Doraville, wahrscheinlich wurden sie mit einem Handy aufgenommen«, sagte er und verblüffte mich erneut.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte ich und schüttelte den Kopf. Aua.

»Möchtest du darüber reden?«, wollte Manfred wissen. »Über das, was hier passiert ist?«

»Wenn es unter uns bleibt und nicht auf irgendeiner Website landet«, sagte ich, aber sein Gesichtsausdruck ließ mich sofort verstummen. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich finde die Vorstellung einfach schrecklich, dass Leute verfolgen, wo ich mich aufhalte, und mich beobachten, ohne dass ich es weiß. Ich würde nie so etwas tun.«

»Erzähl mir, wie du verletzt wurdest«, sagte er, meine Entschuldigung annehmend. Manfred ließ sich auf dem Stuhl an meinem Bett nieder, auf dem Tolliver geschlafen hatte.

Ich erzählte Manfred von den Gräbern, von Twyla Cotton und Sheriff Rockwell, von den toten Jungen in der kalten Erde.

»Irgendjemand lässt hier seit Jahren Jungen verschwinden, und niemand hat etwas bemerkt?«, sagte Manfred. »Das muss ja der reinste Serienmörder sein!«

»Ich weiß. Aber als Sheriff Rockwell erklärte, warum es wegen der verschwundenen Jungs keinen Aufstand gab, klang das durchaus glaubwürdig. Sie waren alle im typischen Ausreißer alter.« Eine Pause entstand. Ich hätte Manfred gern gefragt, wie alt er war.

»Einundzwanzig«, sagte er, und ich zuckte überrascht zusammen.

»Ich habe auch eine kleine Gabe«, sagte er gespielt bescheiden.

»Xylda kann eine unglaubliche Hochstaplerin sein«, sagte ich zu erschöpft, um höflich zu bleiben. »Aber tief in ihrem Innern ist sie echt.«

Er lachte. »Sie kann ganz schön betrügen, aber wenn sie in ihrem Element ist, ist sie wirklich einzigartig.«

»Ich werde einfach nicht aus euch schlau«, sagte ich.

»Ich kann mich ganz gut ausdrücken für einen tätowierten Freak, stimmt's?«

Ich lächelte. »Du kannst dich überhaupt gut ausdrücken. Und ich bin drei Jahre älter als du.«

»Du lebst schon drei Jahre länger als ich, aber wetten, dass meine Seele älter ist als deine?«

Dieser feine Unterschied war mir im Moment zu hoch.

»Ich muss schlafen«, sagte ich und schloss die Augen.

Ich hatte nicht erwartet, dass ich sofort wegdösen würde, bevor ich mich bei Manfred für seinen Besuch bedanken konnte.

Körper brauchen Ruhe, um wieder zu genesen, und mein Körper brauchte mehr Ruhe denn je. Keine Ahnung, ob das etwas mit dem Blitz zu tun hatte, der in mich gefahren war. Viele Blitzopfer haben Schlafstörungen, aber daran leide ich nur selten. Andere Überlebende, mit denen ich mich im Internet ausgetauscht habe, haben alle möglichen Symptome: Krämpfe, Gehörverlust, Sprachprobleme, verschwommenes Sehen, unkontrollierbare Wutanfälle, Gliederschwäche, ADD. Natürlich können die meisten von ihnen weitere Konsequenzen haben, in der Regel negative. Man kann seinen Job verlieren, Ehen scheitern, Geld wird verprasst, in der Hoffnung, ein Allheilmittel zu finden oder wenigstens etwas, das die Beschwerden lindert.

Vielleicht würde ich heute auch in einer betreuten Werkstatt arbeiten, wenn ich nicht zweimal großes Glück gehabt hätte. Zum einen, dass mir der Blitz nicht nur etwas genommen, sondern auch etwas geschenkt hatte: meine merkwürdige Gabe, Leichen zu finden. Zum anderen, dass ich Tolliver hatte, bei dessen Anblick ich auf Anhieb Herzklopfen bekam. Tolliver, der an mich glaubte und mir dabei geholfen hatte, meine neue, nicht sehr angenehme Gabe zum Beruf zu machen.

 

Ich konnte höchstens eine halbe Stunde geschlafen haben, aber als ich aufwachte, war Manfred verschwunden, Tolliver war wieder da, und die Sonne hatte sich hinter dicken Wolken versteckt. Die Uhr an der Wand zeigte halb zwölf an, und ich konnte schon den Wagen mit dem Mittagessen im Flur hören.

»Tolliver«, sagte ich, »weißt du noch, wie wir alle zusammen losgezogen sind, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen?«

»Ja, das war in dem Jahr, als wir zusammengezogen sind. Deine Mutter war schwanger.«

Der Wohnwagen war ganz schön eng für uns gewesen: meine ältere Schwester Cameron und ich in einem Zimmer, Tolliver und sein Bruder Mark in einem zweiten, Tollivers Vater und meine schwangere Mutter im dritten. Außerdem herrschte damals ein ständiges Kommen und Gehen, wegen der zwielichten Freunde unserer Eltern. Aber wir Kinder hatten beschlossen, dass wir einen Baum haben mussten, und da unseren Eltern ohnehin alles egal war, beschlossen wir, selbst einen zu besorgen. In dem Wäldchen um das Wohnwagengelände fanden wir eine kleine Kiefer und fällten sie. Wir hatten einen weggeworfenen Ständer vom Sperrmüll beschafft, und Mark hatte ihn repariert.

»Das hat Spaß gemacht«, sagte ich. Mark, Tolliver, Cameron und ich waren uns auf dieser kleinen Expedition nähergekommen, und anstatt einfach nur Kinder zu sein, die unter ein und demselben Dach lebten, verbündeten wir uns gegen unsere Eltern. Wir waren unsere eigene Interessengemeinschaft. Wir deckten uns gegenseitig und logen, um unsere Familie zusammenzuhalten, vor allem, nachdem Mariella und Gracie auf der Welt waren.

»Sie würden längst nicht mehr leben, wenn wir nicht gewesen wären«, sagte ich.

Tolliver blickte einen Moment lang verständnislos drein, bis er begriff, wovon ich redete. »Nein, unsere Eltern waren nicht in der Lage, sich um sie zu kümmern«, sagte er. »Aber das war das schönste Weihnachten, das ich je hatte. Sie haben daran gedacht, loszuziehen und ein paar Geschenke zu besorgen, weißt du noch? Mark und ich wären lieber gestorben, als das zuzugeben, aber wir waren so froh, euch beide zu haben und deine Mom. Damals war sie eigentlich noch ganz in Ordnung. Sie bemühte sich, gesund zu bleiben, wegen der Babys, zumindest wenn sie sich an sie erinnerte. Und diese Kirchengruppe hat einen Truthahn vorbeigebracht.«

»Wir haben das Rezept genau befolgt. Es war okay.«

Wir hatten ein Kochbuch besessen, und Cameron war davon ausgegangen, dass wir das Rezept lesen konnten wie alle anderen auch. Schließlich waren unsere Eltern einmal Anwälte gewesen, bevor sie Gefallen an dem Leben und den schlechten Angewohnheiten der Leute fanden, die sie verteidigten. Wir haben gute Gene. Zum Glück war es ein Kochbuch für Anfänger, das keinerlei Vorkenntnisse voraussetzte, und der Truthahn war wirklich gelungen. Die Füllung war ein Fertigprodukt, und die Preiselbeersauce kam aus der Dose. Wir hatten einen tiefgekühlten Pumpkin Pie gekauft und eine Dose grüne Bohnen aufgemacht.

»Es war mehr als okay«, sagte er.

Er hatte recht. Es war herrlich gewesen.

Cameron war so willensstark gewesen an jenem Tag. Meine ältere Schwester war hübsch und klug. Wir hatten überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander. Manchmal fragte ich mich sogar, ob wir wirklich Schwestern waren, so wie sich unsere Mutter verändert hatte. Man verliert schließlich nicht auf einen Schlag jedes Moralempfinden, so etwas geschieht nach und nach. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass es damit vielleicht schon jahrelang, noch bevor sie und mein Vater sich trennten, nicht mehr so weit her gewesen war. Aber vielleicht täusche ich mich da. Ich hoffe es zumindest. Als Cameron vermisst wurde, fühlte ich mich, als habe man mein Leben in zwei Hälften geschnitten. Bevor das mit Cameron passierte, war die Situation schlimm, aber erträglich, doch danach brach alles zusammen: Ich kam in eine Pflegefamilie, mein Stiefvater und meine Mutter kamen ins Gefängnis, und Tolliver wohnte mit Mark zusammen. Mariella und Gracie kamen zu Tante Iona und deren Mann.

Camerons Rucksack, der am Rand jener Straße gefunden wurde, die sie damals auf ihrem Heimweg von der Schule benutzt hatte, ist noch immer in unserem Kofferraum. Die Polizei hat ihn uns erst nach Jahren zurückgegeben. Wir nehmen ihn überallhin mit.

Ich nahm einen Schluck Wasser aus meiner grünen Krankenhaustasse. Ich habe mich schon seit Langem damit abgefunden, dass sie tot und für immer weg ist. Eines Tages werde ich sie finden.

Manchmal erspähe ich zufällig eine zierliche junge Frau mit langen blonden Haaren, ein Mädchen mit elegantem Gang und einer geraden Haltung, und dann möchte ich ihr am liebsten hinterherrufen. Doch wenn Cameron noch leben würde, wäre sie kein Mädchen mehr. Sie wäre wesentlich älter. Mal überlegen, entführt wurde sie im Frühling ihres Abschlussjahrs an der Highschool, damals war sie achtzehn - o Gott, dann wäre sie jetzt fast sechsundzwanzig. Seit acht Jahren ist sie jetzt schon weg. Unfassbar.

»Ich habe Mark angerufen«, sagte Tolliver.

»Gut. Wie geht es ihm?« Tolliver ruft Mark nicht so oft an, wie er eigentlich sollte. Ich weiß nicht, ob das einfach typisch Mann ist oder ob es irgendwelche Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gegeben hatte.

»Er wünscht dir gute Besserung«, sagte Tolliver. Das war keine Antwort auf meine Frage.

»Was macht sein Job?«

Mark war mehrmals befördert worden. Er war Hilfskellner, Kellner, Koch und Manager einer Restaurantkette in Dallas gewesen. Jetzt arbeitete er schon mindestens fünf Jahre dort. Für jemanden, der nur drei bis vier Semester aufs College gegangen war, ging es ihm sehr gut. Er arbeitete bis spät in den Abend hinein.

»Er ist fast dreißig«, sagte Tolliver. »Er sollte langsam eine Familie gründen.«

Ich presste die Lippen zusammen, um ja nichts Falsches zu sagen. Tolliver war nur wenige Jahre jünger, plus ein paar Monate.

»Ist er mit irgendjemandem zusammen?«, fragte ich. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich die Antwort kannte.

»Wenn ja, hat er nichts dergleichen erwähnt.« Nach einer Pause sagte Tolliver: »Apropos Beziehungen, ich habe Manfred im Motel getroffen.«

Ich hätte ihn beinahe gefragt, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, überlegte es mir jedoch anders. »Ja, er hat mich besucht«, sagte ich. »Er hat mir erzählt, dass Xylda eine Vision oder so was Ähnliches gehabt hatte und der Ansicht gewesen war, herkommen zu müssen. Er hat mir auch erzählt, dass Xylda todkrank ist. Wahrscheinlich verwöhnt er sie nach Strich und Faden. Er ist wirklich ein sehr fürsorglicher Enkel.«

Tolliver blickte mich skeptisch an. Seine Brauen waren fast bis zum Haaransatz hochgewandert. »Genau. Und Xylda hat ganz zufällig eine Vision, in der eine Frau, auf die er steht, seine Hilfe braucht. Der Typ fährt auf dich ab, tu nicht so, als ob du das nicht weißt. Meinst du nicht, dass er da auch ein Stück weit seine Finger mit im Spiel hatte?«

Ehrlich gesagt war ich ein wenig schockiert. »Nein«, sagte ich. »Ich glaube, dass er gekommen ist, weil Xylda es so gewollt hat.«

Tolliver grinste spöttisch. Einen Moment lang fand ich ihn richtig abstoßend. Er sprang auf und ging in dem kleinen Krankenhauszimmer auf und ab.

»Wahrscheinlich kann er es kaum erwarten, bis seine Großmutter stirbt. Dann kann er aufhören, sie überallhin zu kutschieren, und endlich dich managen.«

»Tolliver!«

Er verstummte. Endlich.

»Das war gemein«, warf ich ihm vor. Wir kannten die Schwächen der Menschen zur Genüge, aber so zynisch durften wir meiner Ansicht nach auch wieder nicht sein.

»Du merkst es nur nicht«, sagte er leise.

»Und du siehst Gespenster«, erwiderte ich. »Ich bin schließlich nicht blöd. Ich weiß, dass mich Manfred mag. Und ich weiß auch, dass er seine Großmutter liebt. Außerdem hätte er sie in ihrem Zustand bei dieser Kälte nie hierhergefahren, wenn sie ihn nicht selbst darum gebeten hätte.«

Tolliver senkte den Kopf, den Blick nach innen gerichtet. Ich war kurz davor, etwas zu sagen, das nie mehr gutzumachen wäre. Aber Tolliver hatte selbst Probleme. Ich kann zwar die Geheimnisse der Toten entschlüsseln, aber nicht die Gedanken meines Bruders lesen. Ich war mir auch nicht wirklich sicher, ob ich das wollte.

»Letztes Weihnachten, nur du und ich, das war ein schönes Weihnachten«, sagte er.

Und dann kam die Schwester herein, um meine Temperatur und meinen Blutdruck zu messen, und der Moment war unwiederbringlich dahin. Tolliver strich meine Decke glatt, und ich ließ mich in meine Kissen zurücksinken.

»Es regnet schon wieder«, bemerkte die Schwester und warf einen Blick auf den grauen Himmel. »Das hört ja gar nicht mehr auf.«

Keiner von uns wusste etwas darauf zu erwidern.

Sheriff Rockwell kam am Nachmittag vorbei. Sie trug schwere Allwetterkleidung, und ihre Stiefel waren schlammverkrustet. Nicht zum ersten Mal dachte ich, dass es schlimmere Orte gab als dieses Krankenhaus. An einem dieser Orte grub man sich auf der Suche nach Spuren durch gefrorenen Boden, atmete den Verwesungsgeruch von Leichen ein und musste Familien, die seit Wochen, Monaten, ja sogar Jahren auf ein Lebenszeichen von ihren vermissten Angehörigen warteten, eine traurige Nachricht überbringen. Dem waren eine Gehirnerschütterung und ein gebrochener Arm bei Weitem vorzuziehen.

Sheriff Rockwell ging vermutlich etwas ganz Ähnliches durch den Kopf. Ihre Stimme klang wütend. »Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn sie ihre mediengeilen Freunde da raushalten könnten«, zischte sie.

»Wie bitte?«

»Ihre Hellseherin, wie immer sie auch heißen mag.«

»Xylda Bernardo«, sagte Tolliver.

»Ja, sie war unten am Bahnhof und hat großes Theater veranstaltet.«

»Was denn für ein Theater?«, fragte ich.

»Sie hat allen erzählt, sie hätte vorausgesehen, dass Sie die Leichen finden. Dass Sie sie hergeschickt und auch vorausgesehen habe, dass Sie verletzt werden.«

»Alles Quatsch«, sagte Tolliver.

»Das sehe ich genauso. Aber sie erschwert unsere Ermittlungen. Erst tauchen Sie auf. Wir sind natürlich alle skeptisch und vermuten das Schlimmste, aber dann haben Sie es irgendwie geschafft. Sie haben die Jungen gefunden, und wir wissen, dass Sie im Vorfeld nichts von diesen Gräbern wissen konnten. Oder zumindest wüssten wir nicht, wie.«

Ich seufzte und versuchte es ihr so leicht zu machen wie möglich.

»Aber dann kreuzt sie mit diesem merkwürdigen Enkel auf. Sie zieht eine Show ab, und er steht nur dabei und grinst.«

Was sollte er auch sonst machen?

»Zu allem Überfluss sieht sie auch noch so aus, als könnte sie jeden Moment tot umfallen. Jedenfalls tragen Sie beide ordentlich zum Umsatz unseres Krankenhauses bei«, fügte Sheriff Rockwell schon etwas munterer hinzu.

Ein kurzes Klopfen ertönte, und dann ging die Tür auf, um den Blick auf einen großen Mann freizugeben, der die Faust noch erhoben hatte.

»Hallo, Sheriff«, sagte er, einen überraschten Ton in der Stimme.

»Hallo, Barney«, sagte sie.

»Störe ich?«

»Nein, komm rein. Ich wollte gerade gehen«, sagte Sheriff Rockwell. »Raus in die Kälte.« Sie zog ihre Handschuhe an. Ich fragte mich, warum sie überhaupt gekommen war. Bestimmt nicht nur, um sich über Xylda zu beschweren. Was konnten wir diesbezüglich schon unternehmen? »Sind Sie gekommen, um Ms Connelly rauszuwerfen?«

»Haha, sehr lustig. Nein, das hier ist ein reiner Höflichkeitsbesuch. Ich besuche jeden Patienten auf seinem Zimmer, nachdem er einen Tag bei uns war, nur um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Ich höre mir die Beschwerden an - und hin und wieder vielleicht sogar ein Kompliment.« Er strahlte uns an. »Barney Simpson, der Verwaltungschef des Krankenhauses, steht Ihnen zu Diensten. Sie sind Ms Connelly, nehme ich an.« Er schüttelte mir ganz sanft die Hand, schließlich war ich krank. »Und Sie sind...?« Er streckte Tolliver die Hand hin.

»Ich bin ihr Manager, Tolliver Lang.«

Ich versuchte mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Ich habe noch nie erlebt, dass sich mein Bruder so vorgestellt hat.

»Ich sollte wohl lieber nicht fragen, ob Ihnen Ihr Aufenthalt in unserem kleinen Städtchen gefällt«, sagte Simpson. Er sah so traurig drein, wie es sein Naturell erlaubte. Er war ein hochgewachsener, kräftiger Mann, mit dickem, vollem, schwarzem Haar und einem breiten Lächeln, das ihn nie zu verlassen schien. »Unsere ganze Gemeinde trauert, trotzdem ist es ein Segen, dass diese jungen Männer gefunden wurden.«

Es klopfte erneut, und ein weiterer Mann kam herein. »Oh, das tut mir leid«, sagte er, »ich komme gern ein andermal wieder.«

»Nein, Herr Pfarrer, kommen Sie herein. Ich habe nur vorbeigeschaut, um zu hören, ob diese Leute irgendwelche Fragen zum Krankenhaus oder Wünsche haben, das Übliche«, sagte Barney Simpson rasch.

Ich stellte fest, dass wir noch gar keine Gelegenheit für das Übliche gehabt hatten.

»Ich muss zurück an den Tatort«, sagte Sheriff Rockwell. Näher brauchte sie ihn gar nicht zu benennen. In Doraville gab es nur einen.

»Na dann...« Der neue Besucher war genauso unsicher wie Barney selbstsicher war. Er war klein, knapp 1,72 m groß, blass und dünn, mit der samtenen Haut und dem seligen Lächeln eines Babys. Er gab unseren im Gehen befindlichen Besuchern die Hand, bevor er sich uns zuwandte.

»Ich bin Pfarrer Doak Garland«, sagte er, und wir vollzogen das Ritual des Händeschüttelns erneut. Ich war schon ganz müde von all den Begrüßungen. »Ich betreue die Gemeinde der Mount Ida Baptist Church an der Route. Ich bin diese Woche der Krankenhauspfarrer. Die hiesigen Pfarrer wechseln sich ab, und Sie haben das Pech, auf mich zu treffen.« Er lächelte engelsgleich.

»Ich bin Tolliver Lang, der Begleiter dieser Dame hier, Harper Connelly. Sie findet Leichen.«

Doak Garland starrte kurz auf seine Füße, als wolle er seine Reaktion auf diese ungewöhnliche Vorstellung vor vins verheimlichen. Was war nur in Tolliver gefahren?

»Ja, Sir, ich habe bereits von Ihnen gehört«, sagte der Geistliche. »Ich bin Twyla Cottons Pfarrer, und sie hat mich dringend gebeten, vorbeizuschauen. Wir werden morgen Abend einen besonderen Gottesdienst abhalten, und wenn Sie bis dahin aus dem Krankenhaus entlassen sind, würden wir uns sehr freuen, wenn auch Sie daran teilnähmen. Ich spreche diese Einladung wirklich von Herzen aus. Wir sind überaus erleichtert, endlich zu wissen, was dem jungen Jeff zugestoßen ist. Irgendwann kommt man an einen Punkt, an dem die Gewissheit, und sei sie auch noch so schrecklich, besser ist als jede Hoffnung.«

Darin konnte ich ihm nur nickend zustimmen.

»Da Jeff ohne Sie beide nie gefunden worden wäre, hoffen wir sehr, dass Sie ebenfalls kommen, vorausgesetzt, Sie fühlen sich schon in der Lage dazu. Ich will Ihnen nichts vormachen und gebe gern zu, dass uns Ihre besondere Gabe vor ein Rätsel stellt. Sie geht einfach über unser Fassungsvermögen hinaus, aber Sie haben sie zum Ruhme Gottes eingesetzt, dazu, unsere Schwester Twyla sowie Parker, Bethalynn und den kleinen Carson zu trösten. Wir möchten uns bei Ihnen bedanken.«

Zum Ruhme Gottes? Ich unterdrückte ein Grinsen, weil er so aufrichtig war und so verletzlich wirkte. »Ich weiß sehr zu schätzen, dass Sie sich die Zeit genommen haben, bei mir vorbeizuschauen und mich einzuladen«, sagte ich in dem Versuch, Zeit zu schinden, bis mir etwas einfiel, wie ich seine Einladung höflich ablehnen konnte.

Tolliver sagte : »Wenn der Arzt gestattet, dass Harper das Krankenhaus morgen verlassen darf, können sie fest auf uns zählen.«

Fremde Mächte mussten von ihm Besitz ergriffen haben. Anders konnte ich mir sein Verhalten nicht erklären.

Doak Garland wirkte ein wenig überrascht, sagte aber freundlich: »Genau das wollte ich hören. Wir sehen uns also morgen Abend um sieben Uhr. Wenn Sie den Weg wissen wollen, brauchen Sie mich nur anzurufen.« Er zückte mit einer überraschend professionellen Geste seine Visitenkarte und überreichte sie Tolliver.

»Danke«, sagte dieser, und so blieb mir nichts anderes übrig, als dasselbe zu sagen.

Als sich mein Zimmer geleert hatte, war ich erneut erschöpft. Aber ich brauchte Bewegung, also überredete ich Tolliver, mir aus dem Bett zu helfen und mich zu stützen, während ich mit meinem Infusionsständer den Flur hinunterging. Zu meiner großen Erleichterung beachtete uns niemand. Die Besucher und Patienten hatten ihre eigenen Sorgen, und eine junge Frau mehr in hässlicher Krankenhausmontur würde sie nicht von ihrem Tunnelblick befreien.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, meinte ich zu Tolliver, als wir das Ende des Flurs erreicht hatten und kurz stehen blieben, um uns dann auf den Rückweg zu machen. »Ist irgendwas? Du verhältst dich wirklich merkwürdig.«

Ich warf ihm einen unauffälligen Blick zu, um gleich darauf festzustellen, dass Tolliver selbst nicht so recht zu wissen schien, was er sagen sollte.

»Ich weiß nur, dass wir hier wegmüssen«, sagte er.

»Warum nimmst du dann die Einladung des Pfarrers an?«

»Weil ich nicht glaube, dass uns die Polizei jetzt schon fortlässt. Außerdem möchte ich, dass wir so oft wie möglich von anderen Leuten umgeben sind. Jemand hat bereits versucht, dich umzubringen, und die Polizei ist so in ihre Mordermittlungen vertieft, dass sie kein Interesse daran zu haben scheint herauszufinden, wer dich angegriffen hat. Und wenn mich nicht alles täuscht, ist der Angreifer derselbe Mann, der auch die Jungs umgebracht hat. Weshalb sonst diese Wut, weshalb sollte er sonst so ein Risiko eingehen? Du hast ihm in die Suppe gespuckt, und da ist er ausgeflippt und mal eben vorbeigekommen, um dich fertigzumachen. Er hätte dich fast umgebracht. Ich weiß nicht, ob du begreifst, welches Glück du hattest, mit einer Gehirnerschütterung und einem angebrochenen Arm davonzukommen. «

Das war für Tollivers Verhältnisse eine ziemlich lange Rede, und er hielt sie mit leiser und stockender Stimme, um nicht das Interesse anderer zu erregen. Als er mit Reden fertig war, hatten wir mein Zimmer erreicht, aber ich deutete in die andere Richtung, und wir trotteten weiter. Ich schwieg. Ich war wütend, wusste aber nicht, auf wen oder was. Tolliver hatte auf der ganzen Linie recht.

Als wir am Ende des Gebäudeflügels angelangt waren, sahen wir aus dem Fenster. Aus dem Regen war ein ekelhafter Eisregen geworden, der klappernd gegen die Scheiben schlug. Na toll. Der arme Suchtrupp. Vielleicht gab er auf und zog sich in die Wärme der Autos zurück.

Als wir am Schwesternzimmer vorbeikamen und uns meinem Zimmer näherten, wurde ich immer langsamer. Mir war immer noch nichts Intelligentes eingefallen, das ich Tolliver hätte erwidern können.

»Ich glaube, du hast recht«, sagte ich. »Aber...« Was ich eigentlich sagen wollte, war: Das erklärt noch nicht deine Feindseligkeit Manfred und seiner Großmutter gegenüber. Warum macht dich sein Interesse an mir so wütend? Warum regt es dich bei Manfred mehr auf als bei allen anderen, die Gefallen an mir gefunden haben? Ich sagte nichts von alledem. Und er forderte mich auch nicht auf, meinen Satz zu beenden.

Ich war froh, mein Bett zu sehen, und lehnte mich schwer dagegen, während Tolliver den Infusionsständer samt Schlauch am dafür vorgesehenen Ort verstaute. Er half mir dabei, mich auf die Bettkante zu setzen, zog mir die Pantoffeln aus und ließ mich behutsam in die Kissen sinken. Wir zogen die Laken glatt.

Er hatte sich etwas zum Lesen mitgebracht und auch für mich ein Buch dabei, falls es meinem Kopf besser gehen würde. Etwa eine Stunde lang lasen wir friedlich, das Prasseln des Eisregens an unserem Fenster war das einzige Geräusch im Raum. Das ganze Krankenhaus schien zu schlafen. Ich sah auf die Wanduhr. Bald würden die Leute von der Arbeit kommen und ihre Freunde und Verwandten besuchen. Eine Zeit lang würde es im Flur nur so wimmeln von Menschen. Dann würde der große Wagen mit dem Abendessen hereingeschoben werden, die Schwester mit den Medikamenten würde ihren Rundgang machen, danach wären die Abendbesucher an der Reihe. Anschließend würde erneut Ruhe einkehren, da alle, die nicht im Krankenhaus bleiben mussten, nach Hause gehen würden. Dann wären nur noch die Angestellten, die Patienten und ein paar ganz besonders Aufopferungsvolle hier, die neben den Patientenbetten in Lehnsesseln schliefen.

Tolliver fragte, ob er bleiben solle. Mir ging es deutlich besser, und ich fand es rührend, dass er überlegte, noch eine Nacht im Lehnsessel zu verbringen. Ich war schwer versucht, Ja zu sagen. Vielleicht ging es mir gerade wieder so gut, dass ich die Kraft hatte, Angst zu haben. Ich fürchtete mich.

Aber ich durfte nicht so egoistisch sein und ihn zu einer weiteren Nacht im Sessel verurteilen, nur weil ich so ein Angsthase war. »Fahr ruhig zurück ins Motel«, sagte ich. »Ich wüsste nicht, warum du heute Nacht nicht gemütlich in deinem Bett schlafen solltest. Ich kann schließlich jederzeit nach der Schwester klingeln.« Die unter Umständen erst in einer halben Stunde käme. Wie viele andere schien auch dieses kleine Krankenhaus personell unterbesetzt zu sein. Sogar die Putztruppe wirbelte förmlich hindurch, weil sie so viel zu tun hatte.

»Bist du sicher?«, fragte er. »Im Motel wimmelt es dermaßen von Reportern, dass es hier eigentlich ruhiger ist.«

Das hatte er noch gar nicht erwähnt. »Du hast recht«, sagte ich. »Wahrscheinlich kann ich von Glück sagen, dass ich hier bin.«

»Allerdings. Ich muss anscheinend so tun, als ob ich nicht im Zimmer sei. Eine Frau hat heute Vormittag zwanzig Minuten lang an die Tür geklopft.«

Er hatte ebenfalls seine Probleme, und ich hatte mich nicht einmal erkundigt, wie es ihm ging. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. »Das tut mir leid«, sagte ich. »An die Presse habe ich gar nicht gedacht.«

»Du kannst ja nichts dafür«, sagte er. »Du ziehst durch diese Sache einfach jede Menge Aufmerksamkeit auf dich, weißt du. Das ist mit ein Grund, warum ...« Sein Gesicht verdüsterte sich. Er dachte erneut an Manfred und Xylda. Klar, dass Xylda gekommen war, um sich in der Aufmerksamkeit zu sonnen, für die die Serienmorde gesorgt hatten. Nein, ich kann nicht Gedanken lesen. Ich kenne Tolliver nur sehr gut.

»Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Xylda sich den Rummel unter normalen Umständen zunutze machen würde«, sagte ich und versuchte, so sachlich und ehrlich zu bleiben wie möglich. »Aber sie ist so was von zerbrechlich, und Manfred hat sie nur sehr ungern hergebracht.«

»Zumindest behauptet er das«, meinte Tolliver.

»Wie dem auch sei, er hat es gesagt. Glaubst du wirklich, Manfred würde eine todkranke Frau gegen ihren Willen irgendwohin schleppen, nur um in der Nähe seiner Angebeteten zu sein?« Ich sah Tolliver eindringlich an. Nach einer Weile wirkte er doch ein wenig beschämt.

»Okay, es stimmt, er liebt die alte Schreckschraube«, sagte er. »Und er fährt sie ganz nach ihren Wünschen überallhin.«

Ein größeres Zugeständnis konnte ich nicht erwarten, aber das war besser als nichts. Ich hasste die Vorstellung, Tolliver und Manfred könnten sich begegnen und einen Streit anfangen.

»Wohnen sie in unserem Motel?«

»Ja. Woanders sind keine Zimmer mehr frei. Die Straße, die den Berg hoch führt, ist wegen der vielen Lastwagen und Polizeifahrzeuge mehr oder weniger für den Verkehr gesperrt. Nur eine Spur wurde freigelassen, und an beiden Enden dieses Flaschenhalses stehen Männer mit Walkie-Talkies.«

Wieder bekam ich ein schlechtes Gewissen, als sei ich für die Unannehmlichkeiten im Leben so vieler Menschen verantwortlich. Dabei lag die Verantwortung einzig und allein bei dem Mörder. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, dass er deswegen schlaflose Nächte hatte.

Was wohl jetzt in ihm vorging? Er hatte seine Wut an mir ausgelassen. »Er wird sich bedeckt halten«, sagte ich. Tolliver musste nicht fragen, von wem ich sprach.

»Er wird vorsichtig sein«, stimmte mir Tolliver zu. »Dass er dich angegriffen hat, geschah nur aus der Wut heraus, dass du ihm die Petersilie verhagelt hast. Inzwischen wird er sich wieder beruhigt haben und sich Sorgen wegen der Polizei machen.«

»Er wird keine Zeit mehr für mich haben.«

»Das glaube ich auch. Andererseits ist dieser Typ nicht ganz richtig im Kopf, Harper. Man weiß nie, was in solchen Leuten vorgeht. Hoffentlich wirst du morgen aus dem Krankenhaus entlassen. Vielleicht haben die Polizisten dich dann auch schon ausreichend befragt, und wir dürfen hier weg. Vorausgesetzt, du bist dazu in der Lage.«

»Das hoffe ich auch«, sagte ich. Es ging mir zwar besser, aber reisefähig war ich deswegen noch lange nicht.

Tolliver umarmte mich, bevor er ging. Auf dem Rückweg zum Motel würde er sich etwas zu essen holen und sich dann den Rest des Abends vor den Reportern verstecken. »Abgesehen davon gibt es nichts, wo ich sonst hinwollte«, sagte er. »Warum bekommen wir nicht mehr Aufträge in Großstädten?«

»Das habe ich mich auch schon gefragt«, erwiderte ich. »Wir hatten diesen Job in Memphis und den in Nashville.« Ich hatte keine Lust, noch einmal über Tabitha Morgenstern zu reden. »Und davor waren wir in St. Paul. Und dann war da noch der Friedhofsjob in Miami.«

»Aber die meisten Aufträge haben wir in kleinen Orten. «

»Ich weiß auch nicht, warum. Waren wir jemals in New York?«

»Aber natürlich, weißt du das etwa nicht mehr? Das war allerdings echt schlimm für dich, denn es war kurz nach dem elften September.«

»Dann muss ich das wohl verdrängt haben«, sagte ich. Das war eine der schlimmsten Erfahrungen in meiner Laufbahn als... was auch immer gewesen. »So etwas machen wir nie wieder«, sagte ich.

»Ja, New York ist tabu.« Wir warfen uns einen langen Blick zu. »Na gut«, sagte er. »Ich bin dann mal weg. Versuch dein Abendbrot zu essen und zu schlafen. Da es dir besser geht, wirst du heute Nacht vielleicht nicht mehr so oft gestört.«

Er machte sich noch ein paar Minuten in meinem Zimmer zu schaffen, sorgte dafür, dass der Rolltisch richtig positioniert war, räumte ihn für das Tablett mit dem Abendessen frei, machte mich auf die Fernbedienung für den Fernseher am Bett aufmerksam und schob das Telefon weiter an die Nachttischkante, damit ich leichter dran kam. Mein Handy legte er in die kleine Schublade im Rolltisch. »Ruf mich an, wenn du mich brauchst«, sagte er und ging.

Ich döste eine Weile, bis das Tablett mit dem Abendbrot kam. Heute bekam ich etwas Nahrhafteres. Ich muss gestehen, dass ich fast alles aufaß, was auf meinem Tablett stand. Es schmeckte gar nicht mal so schlecht. Außerdem hatte ich großen Hunger. In den letzten beiden Tagen hatte ich mich nicht gerade mit Kalorien vollgestopft.

Danach kam zur Abwechslung ein anderer Arzt vorbei, um mir zu sagen, dass meine Genesung Fortschritte machte und ich am nächsten Tag entlassen würde. Er schien sich kein bisschen dafür zu interessieren, wer ich war oder woher ich kam. Er war so überarbeitet wie alle anderen, die ich im Knott-County-Memorial-Krankenhaus kennengelernt hatte. Seinem Akzent nach war er nicht von hier. Ich fragte mich, was ihn wohl nach Doraville verschlagen hatte. Wahrscheinlich arbeitete er auf derselben Station wie Dr. Thomason.

Barney Simpsons Assistentin, eine sehr junge Frau namens Heather Sutcliff, kam, kurz nachdem der Arzt dagewesen war, herein.

»Mr Simpson wollte, dass ich schnell vorbeischaue und nach dem Rechten sehe. Viele Journalisten möchten Sie sprechen, aber um die Ruhe und Intimsphäre der anderen Patienten zu wahren, haben wir ihnen den Zutritt verwehrt. Und wir haben die Anrufe, die an Ihr Zimmer gingen, abgefangen. Ihr Bruder hatte die Idee.«

Kein Wunder, dass ich mich in Ruhe hatte erholen können. »Danke«, sagte ich. »Das ist wirklich eine große Hilfe.«

»Gut. Es wäre aber wirklich nicht fair den anderen Patienten gegenüber, hier lauter Fremde durchtrampeln zu lassen.« Sie musterte mich ernst, wie um mir zu beweisen, dass sie das Presseproblem als sehr gravierend empfand. Dann schlüpfte sie wieder hinaus und zog die Tür sanft hinter sich zu.

Das Interessanteste, das nach ihrem Verschwinden geschah, war, dass ein Mann mein leeres Tablett abräumte. Nach dieser Aufregung versuchte ich ein wenig fernzusehen, aber das Gelächter aus der Konserve verursachte mir Kopfschmerzen. Ich las etwa eine halbe Stunde. Mit der Zeit wurde ich so schläfrig, dass ich das Buch auf meinen Bauch fallen ließ und es gerade noch schaffte, das Licht auszumachen.

Ich wurde durch ein aufblitzendes Licht geweckt und durch Geräusche und Bewegungen ganz in meiner Nähe. Ich schrie und fuchtelte mit meinem gesunden Arm herum, um den Angreifer abzuwehren. Als ich zur Besinnung kam, drückte ich auf den Lichtschalter und den Knopf, der die Schwester herbeiklingelte. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich zwei Männer in meinem Zimmer. Sie trugen dicke Mäntel und schrieen mich an. Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Ich klingelte wiederholt nach der Schwester und schrie immer lauter. Innerhalb von einer Minute drängten sich mehr Leute in meinem Zimmer, als eigentlich hineingingen.

Die Nachtschwester war eine kräftige Frau von beträchtlicher Breite. Sie war auch groß und offenkundig Make-up- Verächterin, aber vor etwa einer Woche musste sie mit einer Flasche roten Haarfärbemittels in Kontakt gekommen sein, das sie sehr zu lieben schien. Ich brachte ihr von Sekunde zu Sekunde mehr Bewunderung entgegen. Sie ging wie eine Furie auf diese Reporter los. Wenn sie eine Waffe gehabt hätte, wären die beiden Männer zweifellos tot gewesen. Der Krankenhauswachdienst war da (ein Mann, der älter war als mein Arzt, aber nicht annähernd so fit), ein Krankenpfleger (ausreichend groß und muskulös) und noch eine Schwester, die meiner toughen Schwester mit unter die Arme griffen.

Natürlich war das ein lächerlicher Vorfall, mit dem ich eigentlich hätte allein fertig werden müssen. Im Grunde hätte ich ihn sogar vorhersehen müssen. Aber im Moment war ich dazu nicht in der Lage. Ich war zu Tode verängstigt gewesen, und mein Herz schlug wie das eines Kaninchens. Mein Kopf schmerzte, als habe man mir erneut eins übergebraten, und mein Arm tat an der Stelle weh, an der ich mich gestoßen hatte, als ich mich in Panik gegen das Bettgestänge geworfen hatte.

Als sich schließlich alles aufklärte, hatte das Krankenhauspersonal die Reporter gründlich fertiggemacht. Der Wachmann und der Pfleger eskortierten die Eindringlinge hinaus, und die beiden Männer versuchten ein Grinsen zu unterdrücken.

Ich war nichts als ein Häuflein Elend: total verängstigt, schmerzgeplagt und einsam.

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